
Im Folgenden möchte ich drei Forschungsfeld hervorheben, von denen ich glaube, dass es gewinnbringend wäre, die Forschung der Digitalen Translatologie auf sie auszuweiten. Ich verstehe Translatologie in einer deutschen Tradition: Sie umfasst das Übersetzen und Dolmetschen in ihren vielen Varianten und hat, zumindest aus meiner Sicht, einen stärkeren empirischen Fokus. ‚Das Digitale‘ wird sowohl aus einer horizontalen Perspektive betrachtet, also mit Blick auf alle Bereiche, die digitale Werkzeuge integriert haben, als auch aus einer vertikalen Perspektive, also die Bereiche, die zutiefst oder ursprünglich digital sind wie etwa maschinelle Übersetzung oder Videospielelokalisierung.
Keines der drei hier angesprochenen Felder ist völlig neu, aber aus meiner Sicht sind sie noch untererforscht und bedürfen besserer Operationalisierungen. Außerdem bieten sie Potenzial für die Erforschung ‚des Digitalen‘ jenseits von Fragen wie
- Wie sollten wir maschinelle Übersetzungen evaluieren?
- Was sind gute Richtlinien fürs Posteditieren?
- Wie beeinflussen Maschinen die Übersetzungs- oder Dolmetschproduktion?
- Sind Menschen oder Maschinen besser im Übersetzen/Untertiteln/…?
die zuletzt überwiegend gestellt wurden. Sie kommen meist aus dem Überschneidungsbereich von Translatologie und maschineller Übersetzung; letztere assoziieren wir nach meiner Erfahrung hauptsächlich mit ‚dem Digitalen‘. Der enge Fokus dieser Fragen ruht auf Textproduktion und Textqualität. Was sie aus meiner Sicht auslassen, ist eine breite Palette an Möglichkeiten, einerseits (a) sich ‚dem Digitalen‘ mit Konzepten zu nähern, die in den Geisteswissenschaften stark vertreten sind, aber in der Digitalen Translatologie noch nicht viel angewandt wurden, und andererseits (b) Konzepte zu integrieren, die üblicherweise für die Erforschung menschlicher Übersetzung genutzt werden, und die zugleich von einer digitalen Perspektive z. B. mit Blick auf Operationalisierungen profitieren könnten.
Kreativität
Maschinelle Übersetzung hat nun auch die Literaturübersetzung erreicht, was angesichts der jüngsten Fortschritte zu erwarten war. Nun machen ein paar gut übersetzte Sätze alleine noch keine gute Erzählung, aber dies wirft doch ein neues Licht auf herkömmliche Ansichten zur Übersetzung. Literaturübersetzung wird noch immer häufig als Gipfel der Kreativität angesehen und als ‚menschlichste Übersetzung‘ dargestellt. Dies ist überraschend, da es schließlich verschiedene andere Genres gibt, die allgemein einer kreativen Übersetzung bedürfen wie etwa Marketing oder Musik.[1] ‚Das Digitale‘ hat weitere solche Genres wie die Videospielelokalisierung hervorgebracht oder die Untertitelung gestärkt. Und es ist anerkannt, dass andere Fachbereiche ihre ganz eigenen kreativen Zugänge brauchen, um z. B. Mit Metaphorizität oder terminologischen Lücken umgehen zu können. (Im Übrigen: Literaturübersetzung ist aus meiner Sicht genauso sehr eine Art Fachübersetzung wie all die anderen Arten Fachübersetzen, oder auch Fachdolmetschen; literarische Sprache ist also Fachsprache, die spezielles Training und/oder Hintergrundkenntnis braucht.)
Die Forschung zum maschinellen Literaturübersetzen legt jedenfalls eine lange bestehende Lücke offen: Wir haben noch immer keine gute Operationalisierung von Kreativität im Übersetzen (und Dolmetschen). Guerberof-Arenas und Toral (2022) bieten eine Operationalisierung, die teils auf einer Standardevaluation der Übersetzungen mittels der Multidimensional Quality Metric basieren, teils auf der Analyse vorannotierter Ausgangssemente, die (möglicherweise) eine kreative Lösung im Zieltext erfordern. Allerdings erscheint mir keins der im Beitrag diskutierten Beispiele als (potenziell) exklusiv literarisch. Kreativität in der Übersetzung, so würde ich aus Guerberof-Arenas und Torals Operationalisierung schließen, braucht sowohl routinierte als auch erfinderische Problemlösung. Ihre Forschungsmethode lässt übrigens nicht den Schluss zu, dass literarische Texte allein und immer den Gipfel der Kreativitätspyramide darstellen (und ich glaube dies wollen die Autoren auch nicht zum Ausdruck bringen), da die untersuchten Texte aus dem Genre Literatur vorausgewählt waren. Es wäre interessant zu sehen, wie sich Texte aus anderen Domänen mit Blick auf Kreativität machen würden, wenn sie mittels derselben Methode beurteilt würden. An dieser Stelle kann nur bestätigt werden, was Guerberof-Arenas und Toral selbst sagen: Kreativität bleibt ein schwer fassbares Konzept.
Pragmatik
Moment mal, baut funktionale Übersetzungstheorie nicht auf der Pragmatik auf? Das tut sie, aber sie ist in ihrer Natur textzentrisch: Nach einer Analyse funktionaler Aspekte eines Ausgangstext werden Übersetzungsentscheidungen getroffen bzw. beurteilt. Es gibt verschiedene Ansätze für diese Art der Analyse (e.g., House 2015; Nord 2009), was dabei aber hinten runter fällt sind die vielen pragmatischen Phänomene wie Informationsstruktur oder Textdeixis, die (zumindest bis zu einem gewissen Grad) unabhängig von der Textfunktion auftreten können. Zugleich weisen House und Kádár (2021, 2) darauf hin, dass die linguistische Formalisierung pragmatischer Phänomene vernachlässigt worden ist, was kulturübergreifende (linguistische) Pragmatikforschung einschränkt.
Jüngste Entwicklungen in der Framesemantik-Gemeinde bieten eine solche Formalisierung: Aufbauend auf frühen Bemerkungen von Fillmore (1982) schlagen Czulo und Kollegen (2020) vor, sich der Methoden der Framesemantik, bisher zumeist auf die (lexikalische) Semantik angewandt, zu bedienen, um Wissensstrukturen über Sprachgebrauch zu modellieren.[2] Triesch Herrmann und Czulo (2024) nutzen pragmatische Frames zur Übersetzungsanalyse am Beispiel englisch-deutscher Übersetzungen ins Adverb bekanntlich. Sie gehen davon aus, dass das Adverb den Frame Gemeinsames_Vorwissen[3] aufruft, d. h. eine Wissensstruktur darüber, wie man sich auf einen Inhalt bezieht, der den Kognizierenden, also Sendern und Adressaten in einer konkreten Kommunikationssituation, bekannt ist. Die Autoren entdecken in DGT-Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche einen nicht-prototypischen semantischen Gebrauch des Adverbs mit Bezug zum Frame Gewahrsein_Status[4], d. h. zu Fällen, in denen ein Sender seine Vertrautheit mit einer Information ausdrückt, ohne die Adressaten mit zu meinen. Dieser Gebrauch entspringt nicht solchen Effekten die Normalisierung oder Durchscheinen, sondern könnte eine Art EU-Sprech darstellen.
Die Variation zwischen pragmatischem vs. semantischem Gebrauch des Adverbs bekanntlich kann nicht mittels der Standardvalenztheorie modelliert werden, da das Adverb keine Valenz im herkömmlichen Sinn hat. Da pragmatische Frames mit Formen verknüpft sind, können sie automatisch annotiert werden und eignen sich damit für eine stärker automatisch ausgerichtete Analyse, wie sie für die maschinelle Übersetzung sowohl nützlich als auch üblich ist, ein Bereich, in dem, wie Valdeón (2023, 10ff.) anmerkt, Pragmatikforschung unterentwickelt ist. Die verschiedenen neuen Möglichkeiten, die durch diese Operationalisierung eröffnet werden, beziehen sich nicht nur auf die maschinelle Übersetzung, sondern auch auf andere Bereiche ‚des Digitalen‘ im Übersetzen und Dolmetschen.
Diskurs
Wie zuvor erwähnt ist der Text die dominante Untersuchungsgröße in der Translatologie: Seine funktionalen Eigenschaften in einer Kommunikationssituation, so die Theorie, bestimmen im Kern Übersetzungsentscheidungen. Was in der Translatologie aber wohl nicht im gleichen Maß wie in der Linguistik Aufmerksamkeit erhalten hat, sind textübergreifende Sprachmuster, die bestimmte Perspektiven begünstigen und unter Regeln Fallen, was (üblicherweise) wie gesagt wird und wer was sagt und sagen kann – alles zusammengenommen eine grobe Arbeitsdefinition von Diskurs (im Foucault’schen Sinn). Diese Muster können von einer Sprachgemeinschaft zur anderen durch Übersetzung übertragen werden, aber dieser Übertrag kann sich einer einfachen textbasierten Analyse entziehen. Manchmal mag es noch nicht mal ‚die eine (Teil-)Übersetzung‘ geben, die eine direkt Übersetzung eines solchem Musters aufweist.
Einen solchen Fall untersuchen Bisiada und Kollegen (2023) mit Blick auf die Übersetzung von Diskursmustern rund um das ursprünglich (US-)englische Konzept #MeToo auf (damals) Twitter ins Deutsche und Spanische. Die Autoren nutzen Framesemantik, um zunächst die Ereignis- und Rollenstruktur von dem, was üblicherweise als #MeToo angesehen wird, zu analysieren: sexualisierte Aggression, die öffentlich gemacht wird, mit Standardwerten wie, prototypisch, Frauen als Opfer und Männern als Täter. Sie decken u. a. auf, dass einige rechtsgerichtete Akteure im deutschsprachigen Twitter die Standardstruktur in eine pervertieren, in der ‚blonde‘ deutsche Frauen von ‚ausländisch aussehenden‘ Männern angegriffen werden; der Angriff, so die aus den Tweets hergeleitete angebliche Ereignisstruktur, würde zuerst von ‚linken‘ oder ‚woken‘ Akteuren vertuscht, aber dann öffentlich gemacht.[5] Obwohl es wahrscheinlich nicht ‚den Tweet‘ gibt, der eine direkte Übersetzung der englischen Vorlage ins Deutsche darstellt, können wir sowohl eine strukturell nahe Übersetzung von ausgangssprachlichen Textmustern als auch Anpassungen der Muster an ein rechtsgerichtetes Publikum beobachten.
Im Bereich ‚des Digitalen‘ könnte diese Art von Forschung durch mehrsprachige textgenerierende Sprachmodelle wichtiger werden. Ähnlich dem grammatikalischen Akzent mehrsprachiger Sprachmodelle, wie er z. B. von Papadimitriou und Kollegen (2023) beschrieben wird, können Spuren anglophoner Muster in in anderen Sprachen generierten Texten zu finden sein. Als ich ChatGPT 3.5 auf Deutsch bat, mir einen deutschen Text über einen Mann in seinen Mittvierzigern zu schreiben, der einen schweren Start ins Leben hatte, produzierte ChatGPT einen deutschen Text mit einer Figur namens „David Davidson“, der u. a. in einen Kampf zwischen Gangs verwickelt und angeschossen wird. Für ein Land wie Deutschland, das keine annähernd ähnlich ausgeprägte Gang-Kultur wie die USA und sehr strikte Waffengesetze hat, scheint dies kein prototypisches Element einer Geschichte, sondern, wenn man Film und Fernsehen folgen mag, eher US-typisch. Möglicherweise sehen wir hier also eine andere Art von ‚Akzent‘, bei dem der Musterübertrag nicht durch Durchscheinen formaler Sprachstrukturen oder konkreter Übersetzung von Teilen einer Geschichte geschieht, sondern durch Nutzung textübergreifender Muster, die nicht für die Zielkultur typisch, aber durch eine Dominanz von englischen Ausgangstexten im Trainingsmaterial, wie im Fall von ChatGPT, bedingt sind. Eine Operationalisierung wie z. B. die Beschreibung von Standardelementen eines Konzepts oder einer Geschichte wie durch Bisiada und Kollegen vorgestellt ermöglicht die Modellierung solcher Unterschiede zwischen Sprachen jenseits einer prosaischen Beschreibung.
Neue Wege für die Digitale Translatologie
Die einleitend aufgeführten textzentrischen Fragen rund um Produktion und Qualität werden wohl ihre Relevanz für die Digitale Translatologie zeitnah nicht verlieren, dennoch bin ich der Überzeugung, dass wir unseren Blick deutlich ausweiten sollten. Die Forschungsfelder, die ich hier kurz angerissen habe, stellen nicht nur neue interessante Forschungsmöglichkeiten dar, sondern stehen auch für Themen und Zugänge in den Geisteswissenschaften, die eine starke und reichhaltige Tradition haben. Indem wir sie nutzen, können wir zur Erforschung ‚des Digitalen‘ beitragen und von neuen, digitalen Perspektiven auf sie profitieren. Diese Liste der Forschungsfelder ist natürlich nicht abgeschlossen. Forschung in diese und ähnliche andere Richtungen wird einbegreifen müssen, dass wir in andere Disziplinen wie die Computerlinguistik (nicht so sehr die stark sprachtechnologische Richtung, sondern diejenige der formalen Beschreibung von Sprache) oder Korpuslinguistik schauen, um mehr über Operationalisierungsmöglichkeiten zu erfahren, und in andere Geistes- oder sozialwissenschaften, um neueste Erkenntnisse in der Kreativitäts-, Pragmatik- oder Diskursforschung zu finden. Dies öffnet Türen für einen fruchtbaren Austausch und für einen Beitrag der Digitalen Translatologie zu dieser Forschung.
References
Bisiada, Mario, Oliver Czulo, und Eleonore Schmitt. 2023. „#MeToo in drei Sprachen: Qualitative Analyse von Konzepten und Diskursmustern im Englischen, Deutschen und Spanischen anhand von Twitter“. Deutsche Sprache, Nr. 1 (März), 5. https://doi.org/10.37307/j.1868-775X.2023.01.05.
Czulo, Oliver, Alexander Ziem, und Tiago Timponi Torrent. 2020. „Beyond lexical semantic frames: notes on pragmatic frames“. In Towards a global, multilingual FrameNet, herausgegeben von Tiago Timponi Torrent, Collin Baker, Oliver Czulo, Kyoko Ohara, und Miriam Petruck, 1–7. Proceedings of the LREC 2020. Marseille: Association for Computational Linguistics. https://aclanthology.org/2020.framenet-1.1/.
Fillmore, Charles J. 1982. „Frame semantics“. In Linguistics in the Morning Calm, 111–37. Seoul, South Korea: Hanshin Publishing.
Guerberof-Arenas, Ana, und Antonio Toral. 2022. „Creativity in translation: Machine translation as a constraint for literary texts“. Translation Spaces 11 (2): 184–212.
House, Juliane. 2015. Translation Quality Assessment: Past and Present. London: Routledge.
House, Juliane, und Dániel Z. Kádár. 2021. Cross-Cultural Pragmatics. Cambridge New York, NY Port Melbourne New Delhi Singapore: Cambridge University Press. https://doi.org/10.1017/9781108954587.
Matsumoto, Yoshiko. 2010. „Interactional Frames and Grammatical Descriptions: The Case of Japanese Noun-Modifying Constructions“. Constructions and Frames 2 (2): 135–57. https://doi.org/10.1075/cf.2.2.01mat.
Nord, Christiane. 2009. Textanalyse und Übersetzen: theoretische Grundlagen, Methode und didaktische Anwendung einer übersetzungsrelevanten Textanalyse. 4., Überarb. Aufl. Tübingen: Groos.
Ohara, Kyoko. 2018. „Relations between frames and constructions: A proposal from the Japanese FrameNet constructicon“. In Constructicography: Constructicon development across languages, herausgegeben von Benjamin Lyngfelt, Lars Borin, Kyoko Ohara, und Tiago Timponi Torrent, 141–64. Amsterdam; Philadelphia: Benjamins. https://doi.org/10.1075/cal.22.05oha.
Papadimitriou, Isabel, Kezia Lopez, und Dan Jurafsky. 2023. „Multilingual BERT Has an Accent: Evaluating English Influences on Fluency in Multilingual Models“. In Findings of the Association for Computational Linguistics: EACL 2023, 1194–1200. Dubrovnik, Croatia: Association for Computational Linguistics. https://doi.org/10.18653/v1/2023.findings-eacl.89.
Triesch-Herrmann, Susanne, und Oliver Czulo. 2024. „A frame-based analysis of the pragmatics and semantics of “bekanntlich” in English-German translation“. trans-kom Zeitschrift für Translationswissenschaft und Fachkommunikation 17 (1): 130–46.
Valdeón, Roberto A. 2023. „Automated Translation and Pragmatic Force: A Discussion from the Perspective of Intercultural Pragmatics“. Babel. Revue Internationale de La Traduction / International Journal of Translation, Juli. https://doi.org/10.1075/babel.00328.val.
[1] Dies wird durch Konzepte wie Transkreation durchaus gewürdigt, aber meine persönliche Erfahrung ist, dass der Gedanke Forschung und Praxis noch nicht voll durchdrungen hat.
[2] Die Diskussion um pragmatische Frames ist nicht neu, blieb aber, mit wenigen Ausnahmen wie (Matsumoto 2010; Ohara 2018), seit Fillmores Bemerkungen recht still.
[3] https://framenet-constructicon.hhu.de/framenet/frame?id=1569 (letzter Aufruf 2024-12-28)
[4] https://framenet-constructicon.hhu.de/framenet/frame?id=728 (letzter Aufruf 2024-12-28)
[5] Wie von Kollegen berichtet, ist dieses Muster nicht fürs Deutsche oder Twitter exklusiv, es taucht in den von den Autoren untersuchten Twitterdaten aber prominent auf.
Einzelheiten
- Datum der Veröffentlichung
- 9. Januar 2025
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- Generaldirektion Übersetzung
- Dienststelle
- Generaldirektion Übersetzung
- Sprache
- Englisch
- Deutsch
- EMT-Kategorie
- Übersetzungstechnologie